Inklusion Asia Jordanien Office

Asia Yaghi musste als Kind darum kämpfen, an einer Schule aufgenommen zu werden. Heute ist sie erwachsen, hat einen Universitätsabschluss und leitet Jordaniens größte Selbstvertretungsorganisation für Menschen mit Behinderungen. Mit „I am Human“ setzt sie sich für das Recht auf inklusive Bildung und für ein selbstbestimmtes Leben für alle ein.

Es ist eine alltägliche Situation für die Jordanierin Asia Yaghi. Auf dem Weg zur Arbeit will sie noch schnell ein Paket abholen. Am Vorabend hatte sie etwas bei ihrem Lieblingsbäcker bestellt. Geduldig wartet sie auf den Angestellten, der die Bestellung zum Auto trägt. Drei Frauen, die ebenfalls vor dem Laden warten, beschimpfen Asia: Sie solle doch aus dem Auto steigen und sich ihre Sachen selbst holen. Aus dem Auto zu steigen ist für Asia aber nicht so einfach wie für andere – mit ihrer Gehbehinderung dauert es deutlich länger, es ist umständlich und anstrengend. Doch die wartenden Frauen sind ungeduldig.

Asia fährt selbst Auto und ist daher sehr unabhänging. Dort, wo sie doch auf andere angewiesen ist, erlebt sie unterschiedliche Reaktionen – auch wegen fehlendem Wissen über Behinderungen in der Bevölkerung. © GIZ / Dina Naser

„Viele Menschen machen sich überhaupt keine Gedanken darüber, warum jemand um Hilfe bittet“, weiß Asia. „Sie haben nur ihre eigene Perspektive und ihre Vorbehalte. Und sie wissen nichts über uns Menschen mit Behinderungen.“ Das würde sie gerne ändern – und anfangen will sie dabei mit dem Bildungssystem.

Ein Recht auf Bildung

„Viele Leute wollen nicht akzeptieren, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Bildung haben“, erzählt sie. Ihr eigener Vater bemühte sich lange vergebens, eine Schule für seine Tochter zu finden. „Als er endlich eine Schulleiterin überzeugen konnte, musste er sich als Gegenleistung zu Hausmeistertätigkeiten in der Schule verpflichten.“ Und unterschreiben, dass die Schule nicht haften würde, falls ihr etwas passieren sollte.

Inzwischen hat die jordanische Regierung ein Gleichstellungsgesetz verabschiedet, das Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen – insbesondere im Bildungssystem – Schutz und Unterstützung bieten soll. Das Gesetz von 2017 sieht beispielsweise vor, dass innerhalb von zehn Jahren alle Schulen des Landes barrierefrei zugänglich sind und dass das Lehrpersonal für die inklusive Arbeit ausgebildet ist.

Doch im Bildungsetat für die darauf folgenden Jahre wurden nur 0,4 Prozent des Haushalts für die Bildung von Kindern mit „besonderem Bedarf“ eingeplant – in getrennten Einrichtungen.

Asia, eine jordanische Frau, sitzt am Steuer ihres Autos © GIZ / Dina Naser
 

Die Vielfalt sichtbar machen

„Besonderer Bedarf“ – das ist ein Begriff, den Asia so nicht stehen lassen möchte. Er würde untergraben, was Menschen ohne Behinderungen in Jordanien automatisch zusteht. „Inklusive Erziehung ist in der Verfassung Jordaniens verankert, ebenso wie in den Verfassungen anderer Länder, die die Einhaltung der Menschenrechte garantieren“, erklärt sie. Alle hätten somit das gleiche Anrecht auf diskriminierungsfreie Bildung.

„Menschen wie ich sind daher keine Personen mit besonderem Bedarf. Wir sind Menschen wie alle anderen auch. Ich habe lediglich eine motorische Behinderung.“ Der Zusatz „motorische Behinderung“ ist ihr sehr wichtig. Er verweise darauf, dass es die Umwelt sei, die es ihr oft erschwere, sich genauso gut wie alle anderen fortzubewegen – und nicht ihre Behinderung selbst.

Worte, das weiß Asia, haben eine große Bedeutung. Daher geht es ihr nicht nur um barrierefreie Gebäude und die Zulassung von Schüler*innen mit Behinderungen. Es gehe vor allem auch um Bewusstseinsbildung und Repräsentation: „Wir existieren. Warum werden wir nicht in Schulbüchern erwähnt? Warum zeigt das Unterrichtsmaterial keine Bilder von Menschen, die einen Blindenstock nutzen? Wir müssen unsere Vielfalt endlich in unserem Bildungssystem abbilden.“

Nichts über uns ohne uns – die „I am Human Society“

Um die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Jordanien zu verwirklichen, im Bildungssystem und darüber hinaus, hat Asia im Jahr 2008 mit vier weiteren Personen die „I am Human Society for Rights of People with Disabilities“ gegründet. Die Organisation ist die erste ihrer Art im Land – und zählt heute bereits mehr als 4.500 Mitglieder aus ganz Jordanien.

Sie klärt über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf und macht durch Kampagnen, Projekte und zahlreiche Initiativen auf das Thema aufmerksam. „Die meisten Leute wissen nicht, dass es Gesetze zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gibt. Das will ich ändern“, sagt Asia mit einem selbstbewussten Lächeln.

Inklusion Asia Jordanien Portrait.jpg
 

Auch in Bildungseinrichtungen ist die Organisation unterwegs. An der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität von Jordanien werden Workshops mit Studierenden veranstaltet. Das Thema: Hindernisse, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, und Möglichkeiten, diese zu überwinden. Ziel ist es, das Bildungssystem endlich gerechter und inklusiver zu gestalten.

Vor allem aber möchte Asia das Leben von Menschen wie ihr drastisch verbessern. Die „I am Human Society“ verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz, der Menschen mit Behinderungen, deren ganze Familie und das weitere Umfeld einbezieht.
„Die Familie ist unfassbar wichtig. Ich hatte Glück. Meine Eltern haben mich so akzeptiert, wie ich bin. Und sie haben diese Einstellung unserer ganzen Familie aufgezwungen.“ Asia lacht herzlich. „Das hat mich innerlich sehr gestärkt.“

Menschen mit Behinderungen und deren Familien erhalten von der Organisation kostenlose Schulungen und Trainings, die sie in allen relevanten sozialen und finanziellen Fragen unterstützen. Welche Rechte stehen mir als Mensch mit Behinderungen zu? Wer unterstützt mich, wenn mein Kind eine Behinderung hat? Die mobilen Einsatzteams, die sich aus Freiwilligen aus ganz Jordanien zusammensetzen, sind bereits in fast allen Teilen des Landes aktiv und erreichen auch Menschen an abgelegenen Orten.

Noch gäbe es Leute, die Menschen mit Behinderungen grundsätzlich ablehnten; Leute, die fragen, warum jemand im Rollstuhl auf einer Party oder mit einer Sehbehinderung in der gleichen Klasse mit anderen Kindern sei. Dennoch: „Vieles ist heute schon besser“, weiß Asia. „Ich zum Beispiel kann mich mit meinem Rollstuhl einfacher bewegen. Manchmal gibt es Rampen, und immer mehr Leute akzeptieren mich so, wie ich bin.“ Diese stetigen Veränderungen geben Asia die Kraft, sich jeden Tag aufs Neue für gleiche Rechte für Menschen mit Behinderungen einzusetzen.