Sylvia sitzt in einem Klassenraum und spricht Gebärdensprache.

„Schaut, was ich erreicht habe!“

Sylvia Abena Peprah hat ihr Augenlicht und ihr Gehör verloren – und lässt sich doch nicht davon abhalten, ihre Träume zu verwirklichen. Eine Geschichte, die auf beeindruckende Weise zeigt, was es bedeutet, mit einer Mehrfachbehinderung zu leben. Und eine junge Frau, die dazu auffordert, Inklusion als Chance zu sehen.

Als Sylvia Abena Peprah Ende 2018 ihr Diplom der University of Education Winneba entgegennimmt, gibt es eine Sache, die sie von den mehr als 16.000 anderen Graduierten dieses Jahrgangs unterscheidet: Die heute 32-jährige Ghanaerin ist die erste Person mit Seh- und Hörbehinderung, die in Ghana einen Universitätsabschluss erlangt – und das mit Auszeichnung.

Die Universität von Winneba versteht sich als inklusive Institution und nimmt jedes Jahr Studierende mit unterschiedlichen Behinderungen auf. Darüber hinaus beschäftigt die Hochschule Fachkräfte, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Studierenden spezialisiert sind. Das ist nicht nur für Ghana herausragend – weltweit gibt es wenige Universitäten, die Menschen mit Behinderungen ein barrierefreies Studieren ermöglichen.

Die Universität von Winneba hat Sylvias Potenzial erkannt und übernimmt die Kosten für ihr weiterführendes Studium im Bereich ‚Community Based Rehabilitation and Disability Studies‘. Damit ist sie ihrem Ziel, Lehrerin zu werden, einen wichtigen Schritt nähergekommen. Doch trotz ihrer Fähigkeiten und ihres Ehrgeizes hatte es die junge Frau nicht immer leicht.

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Stigmatisierung und Benachteiligung sind allgegenwärtig

Ghana gehört zu den ersten Ländern, die 2007 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen  unterzeichneten. Doch in vielen Bereichen sind Menschen mit Behinderungen von gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch weit entfernt. Behinderungen werden – nicht nur in Ghana – oft mit Stigmatisierung, Diskriminierung und sozialer Ächtung verbunden.

Und oft trifft es die ganze Familie. Denn Menschen mit Behinderungen sind häufig von Armut betroffen. Eltern von Kindern mit Behinderungen kommen oft kaum über die Runden, weil sie mit den Gesundheitskosten ihrer Kinder allein gelassen werden. Es ist nicht leicht dem finanziellen und sozialen Druck standzuhalten – wie Sylvia allzu gut weiß. Ihrer Mutter etwa wurde mal von einer Bekannten geraten, sie im Fluss auszusetzen, der eigene Vater drohte mit Gewalt. Doch die Mutter stellte sich hinter ihre Tochter.

Mit vier Jahren eine Klasse übersprungen

Sylvia ist nicht mit einer Behinderung zur Welt gekommen. Als sie sechs Jahre alt ist, verliert sie durch eine bis heute unbestimmte Kinderkrankheit ihr Hörvermögen. Sie ist gezwungen, mit Lippenlesen zurecht zu kommen. Sie beißt sich in der Schule durch, lässt sich von ihren Mitschüler*innen aushelfen, wenn die Lehrerin in eine andere Richtung spricht.

„Ich war schon immer sehr wissbegierig“, erinnert sich Sylvia. „Ich habe mit vier Jahren sogar eine Klasse übersprungen.“ Doch eines Tages wird Sylvia in der Schule von ihrer Mathelehrerin gelobt. Und mit dem Lob der Lehrerin kommt der Neid der anderen Kinder. Die Folge: Sie verweigern Sylvia die nötigte Unterstützung. Ganz ohne die Hilfe der anderen fällt es ihr schwer, dem Unterricht zu folgen.

Und auch die Lehrer*innen bieten Sylvia keine zusätzliche Hilfe – zu verbreitet ist die Einstellung, dass Menschen mit Behinderungen nicht die gleichen Fähigkeiten hätten. Doch mithilfe ihrer Mutter Lucy besteht Sylvia die Klassenarbeiten.

Sylvia spricht in Gebärdensprache

Sylvia spricht in Gebärdensprache © GIZ / Felix Lohmaier

Zusätzlich zum Hörvermögen verliert Sylvia nach und nach auch ihr Augenlicht. Mit neun Jahren ist sie taub und blind. Und gibt trotzdem nicht auf. Sylvia schafft den Sprung an die Mampong Demonstration School for the Deaf, wo sie schließlich ihre Schulbildung abschließt. Unterstützt von ihrer Mutter und ihrer Großmutter. „Wir haben ihr alles auf den Arm geschrieben“, erinnert sich Lucy. „So haben wir mit ihr kommuniziert.“

„Ich kann eine Inspiration für andere sein“

„Jedes Kind ist ein Geschenk“, sagt die zweifache Mutter heute, wenn sie an die harten Zeiten zurückdenkt, die ihre Familie durchgemacht hat. „Sorgt dafür, dass Kinder mit Behinderungen an der Gesellschaft teilhaben können, und seht sie nicht als Belastung an.“ Diese Einstellung hat Sylvias Weg bereitet. „Ich weiß, dass ich eine Inspiration für andere Menschen mit Behinderungen sein kann“, sagt Sylvia. „Schaut euch an, was ich erreicht habe.“

Tatsächlich gibt es viele, die sich fragen, wie Sylvia das alles ohne Seh- und Hörvermögen geschafft hat. Gifty Nana Yaa Rockson kennt die Antwort. „Dass man mit Sylvia nicht kommunizieren kann, ist eine falsche Annahme“, sagt die junge Dozentin der Universität, die seit 2018 auch als Übersetzerin für Studierende mit Sehbehinderungen arbeitet.

Die beiden haben sich angefreundet, Zuneigung und vor allem Vertrauen verbindet sie. „Sylvia und ich sprechen eine besondere Form der Gebärdensprache.“ Zwar könne Sylvia die Bewegung ihrer Hände nicht sehen – aber sie kann die Bewegungen mit ihrem gesamten Körper erfühlen. Denn neben der Brailleschrift beherrschen beide Frauen auch das taktile Signieren, eine einzigartige Form der manuellen Kommunikation. „So reden wir miteinander.“

Taktile Gebärdensprache
Bei der taktilen (erfühlten) Gebärdensprache legt eine taubblinde Person ihre Hände auf die des gebärdenden Gesprächspartner. Dadurch gelingt es, die Form und Bewegung der Gebärden abzufühlen und fehlende Mimik zu kompensieren.

Sylvia und Gifty sitzen draußen und unterhalten sich in taktiler Gebärdensprache © GIZ / Felix Lohmaier

Sylvia und Gifty unterhalten sich in taktiler Gebärdensprache © GIZ / Felix Lohmaier

Für Sylvia sei das gegenseitige Vertrauen dabei sehr wichtig. Sie weiß, dass sie sich ganz auf Gifty verlassen kann, auch wenn es um persönliche Dinge geht, die niemand anders mitbekommen soll. Gifty übersetzt dabei nicht nur das gesprochene Wort, sie beschreibt Sylvia auch Umgebungen und die Gefühle, die sie auf den Gesichtern von Sylvias Gesprächspartner*innen liest.

COVID-19 stellte sich dann als große Schwierigkeit für Sylvia heraus, denn sie ist für die Kommunikation mit anderen schließlich von Berührungen abhängig. „Ich darf Menschen wegen der Ansteckungsgefahr nicht zu nahekommen“, erklärt sie. „Das macht mich sehr unglücklich.“

Die Pandemie wird eines Tages vorbei sein. Doch Sylvia wird auch danach noch mit Stigmatisierung zu kämpfen haben. Die angehende Lehrerin ist darauf vorbereitet. „Viele der Vorbehalte, die gegenüber Menschen mit Behinderungen existieren, sind auf Ignoranz zurückzuführen“, weiß die junge Frau. Sie wünscht sich eine Gesellschaft, in der es weniger Berührungsängste gibt und Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte Individuen wahrgenommen werden. Dafür werden sich Sylvia und Gifty auch in Zukunft einsetzen.

Sylvia und Gifty auf dem Winneba Campus

Sylvia und Gifty auf dem Winneba Campus © GIZ / Felix Lohmaier